Impuls 6. Sonntag im Jahreskreis B
Evangelium: Mk 1, 40-45
Abstand halten
„Abstand halten.“ hatte der Priester gesagt und war einen Schritt zurückgetreten. „Abstand halten.“ Die Worte dröhnten in seinen Ohren. Wie in Zeitlupe waren in diesem Augenblick die letzten Wochen an ihm vorübergezogen. Angefangen hatte es damit, dass ein Kollege ihn gemustert hatte und meinte: „Du hast da etwas.“ „Du musst zum Priester und es zeigen. So steht es bei Mose im Gesetz. Der Priester muss es ansehen. Er muss entscheiden, was es ist und ob du rein bist oder unrein.“
So war es bei ihnen üblich. War die Haut verändert wurde ein Mensch unter Generalverdacht gestellt. Es konnte alles sein, natürlich. Es konnte auch ganz harmlos sein. Aber es konnte eben auch die Krankheit sein, Aussatz.
War es Aussatz, dann würden die Stellen auf der Haut immer mehr und grösser werden. Er würde keinen Schmerz mehr fühlen. Keine Wärme. Keine Kälte. Keine Berührungen. Er würde langsam von der Krankheit aufgefressen werden. Aussatz. Das war ein Todesurteil, das über Jahre vollstreckt wurde.
Er hatte sich dem Priester gezeigt. Nach einer Woche nochmals. Und dann hatte ihn der Priester durchdringend angesehen. „Du bist unrein. Du hast Aussatz. Du darfst dich anderen Menschen nicht nähern. Du musst außerhalb des Dorfes leben. Du musst andere Menschen vor dir warnen. Du musst Abstand halten.“
Quarantäne lebenslänglich. Ab sofort. Er lebte noch. Aber für die anderen in seinem Dorf war er mit diesem Tag gestorben.
Natürlich will er keinen anstecken. Natürlich ist es sinnvoll, Abstand zu halten. Es ist völlig klar, dass keiner Menschenseele damit geholfen ist, wenn sich sein Leiden auf andere ausbreitet. Keine Frage, die Vorkehrungen und Vorsichtsmaßnahmen sind lästig. Na sicher, es ist logisch, dass sich nicht alle einig sind, wie gefährlich es jetzt wirklich ist, solange man nichts Genaueres weiß. Und selbstverständlich macht es Sinn, vorsichtig zu sein.
Aber die Angst in den Augen der anderen ist schlimm.
Angst steckt an wie ein Virus. Die Verbündete der Angst ist die Ratlosigkeit. Ihre Nahrung ist das Halbwissen. Das Tuscheln und Tratschen mästet die Angst bis sie zu übermächtiger Größe anschwillt. Mit Verschwörungstheorien versteht sie sich blendend. Von Verhältnismäßigkeiten und von Augenmaß will sie nichts wissen. Gegen vernünftige Argumente ist sie immun. „Du bist eine Infektionsquelle“, flüstert die Angst, „und kein Mensch.“
Er hält Abstand. Kein Händeschütteln mehr. Keine Küsse zur Begrüßung. Keine Geselligkeit. Alles das, was bisher im Zusammenleben selbstverständlich war, ist aufgehoben. Seine Sehnsucht nach Nähe wird von Tag zu Tag grösser. Gerade in Not und Angst wächst der Wunsch nach Berührungen.
„Abstand halten.“ Das war die Devise bis zu diesem Tag. An diesem Tag war für ihn alles anders geworden. Draußen vor dem Dorf war ein Mensch unterwegs gewesen, wie so oft Menschen draußen vor dem Dorf vorbeikamen. Er hatte Abstand gehalten und den anderen vor sich gewarnt, wie immer. Doch auf einmal hält er inne.
Er, der schon lange nichts mehr gefühlt hatte, spürt es deutlich.
Soll er es wagen? Soll er sich nähern? Nähe ist ein Wagnis. Immer. Aber in seinem Fall gilt das besonders. Ihm ist, als hätte der andere seine Antwort schon gesprochen, bevor er überhaupt gedacht hat. Er nähert sich. Er fällt auf die Knie, bittet Jesus und sagt: Wenn du willst, kannst du mich rein machen.
Jesus kommt ihm nahe. Er streckt seine Hand aus und berührt ihn. Das ist unvernünftig. Er könnte sich anstecken. Es ist gegen alle geltenden Regeln. Das ist unglaublich. Durch Jesu Mitleid wird er wieder Mensch. Es ist unfassbar. Was für Menschen unmöglich ist, ist bei Gott möglich. Da, wo Menschen zum Abstand gezwungen sind, lässt sich Gott von der Not berühren. Seine Liebe fügt das, was zerbrochen war, wieder zusammen und macht Menschenseelen heil. Seine Nähe verbindet, was getrennt war.
Freude, große Freude! Gott ist nah! Er hat es erfahren. So etwas kann kein Mensch für sich behalten. Auch er nicht. Seine Geschichte von der Berührung Gottes, die hat er weitergetragen und andere damit berührt. Er hat von Gottes Nähe erzählt. Immer wieder und immer weiter. Bis heute.
Monika Gundendorfer